Musiktheoretischer Diskurs
Die Filettierung eines Schubert'schen Streichquartetts
von Michael Hiemke
Man akzeptiert immer - bewusst oder unbewusst - das Programm, das hinter Franz Schuberts Streichquartett D. 810 Der Tod und das Mädchen steht, kann sich angesichts des Titels von einer hermeneutischen Analyse genau so wenig lösen, wie von einer hermeneutischen Rezeption. Abgesehen davon klingt noch dazu Matthias Claudius' Liedtext, den Schubert 1817 in seinem gleichnamigen Klavierlied (op.7 No.3) vertont, allzeit in den Ohren:
Das Mädchen
Vorüber! Ach, vorüber!
Geh wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Der Tod
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen.
Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
Schubert schreibt das Quartett als ein musikalisches und thematisches Selbstzitat des eigenen Liedes in den Jahren 1824 bis 1826, führt es im engen Freundeskreis am 29.01.1826 zum ersten Mal auf - und legt es anschließend, findet es doch bei den Zuhörern wenig Anklang, in die Schublade. Vielleicht ist es die Thematik, vielleicht der Bruch mit Traditionen des Streichquartetts, vielleicht aber auch die in der Musik sich offenbarende Zerrissenheit und Schwermut des Komponisten über seine nun schon zu lange andauernde Krankheit, deretwegen erst die Nachwelt das Streichquartett, neben Beethovens späten Quartetten, als eines der reifsten und reichsten Werke seiner Epoche (H. Wirth) erkennt. Die überwältigende Vielfalt musikalischen Materials wird durch die Materialbezüge untereinander, das beständige Neuerfinden des Altbekannten verklammert und führt durch die unterschiedlichsten Seelenzustände - oder sollte man sie besser dramatische Zustände nennen? Schuberts Musik ist in einer Art und Weise autark, dass sie keiner Visualisierung bedarf, um symbiotisch mit der Fantasie des Hörers alles über den Tod und das Mädchen, die Protagonisten des Quartetts, zu berichten.
Die Koexistenz mit dem Theater verändert nichtsdestoweniger den Blick auf das Schubert'sche Quartett. Da ist eine Situation zwischen den Hauptfiguren, zu der etwas Musik vorbeiweht, ein kleiner musikalischer Ausschnitt, der durch die Situation lediglich kurzfristig semantisiert wird. Die Beziehungen, die Musik und schauspielerische Szene hier eingehen, sind flüchtig und beinahe zufällig: Musik untermalt die Handlung nicht, sie inzidiert. Diese Erfahrung verändert die Wahrnehmung der Theaterszene und der Musik. Was wir hören und sehen, ist eine aus dem ausufernden, unüberblickbaren Ganzen filettierte Essenz. In ihr negiert sich die düstere und kompromisslos pessimistische poetische Idee, die H.-J. Hinrichsen dem Quartett unterstellt, gleichsam in statu nascendi, da sie immer stattfinden kann, auch im Moment des größten Friedens und der wonnevollsten Freude auf der Bühne. Die Symbiose von Theater und Musik zeigt, wie willkürlich und von simpler Gewohnheit geprägt die Bezüge sind, die man hörend dem Gehörten unterstellt und schließlich wie stark unsere Verwurzelung in tradierten Hörmustern.
Die Sechs Bagatellen op. 9 von Anton von Webern sind musikalische Aphorismen über die Reduktion und den Zerfall und machen Schubert unverhofft ihre Reverenz. Angesichts der (im 'klassischen' Sinne) fragmentierten Musik gibt das Theater die Bühne frei für die wohlbekannte Konzertsituation. Allein, auf sich und die vier Musiker zurückgeworfen, abdiziert verstummend das musikalische Subjekt und gibt sich dem Material anheim, das ihm doch mehr nicht gewährt als das Echo des Verstummens. Wir hören nochmals, plötzlich allein mit dem Material, das nicht zum Hören bestimmt zu sein scheint: Die Möglichkeit von Musik ist ungewiss geworden (T.W. Adorno).